Die schönste Arbeit in den Reben? Keine Frage, das Herbsten, wie die Weinlese bei uns genannt wird! Und das Schönste beim Herbsten? Natürlich das Vesper – gemeinsam mit allen Helferinnen und Helfern draußen an der frischen Luft. Die Stimmung ist einzigartig und jedes Mal anders, denn es arbeiteten grundverschiedene Leute einen Tag lang gemeinsam an einer Aufgabe.
Da schnippelt der studentische Globetrotter neben der altledigen Winzerin, die Kulturschaffende neben dem LKW-Fahrer, die Putzhilfe neben der Studienrätin, der Metzger in Rente neben der Vegetarierin, der Impfskeptiker neben dem Arzt. Hier kommen Menschen zusammen, die nirgendwo sonst in dieser Konstellation zusammentreffen würden. Hier werden Vorurteile abgebaut und Überzeugungen über den Haufen geworfen. Früher wurden hier sogar Ehen angebahnt – nicht wenige MitbürgerInnen kamen einst als LesehelferInnen vom Schwarzwald und der Baar nach Ebringen – nicht umsonst galt die Weinlese einst als einer der Höhepunkte des dörflichen Lebens.
Die Bezahlung wird flexibel und arbeitnehmerfreundlich – nämlich nach Wunsch und Bedarf – gestaltet. Schüler, Studenten und Menschen ohne eigenes Einkommen werden mit Bargeld ausbezahlt, alle übrigen in Naturalien – Wein, Schnaps, Obst, Gemüse, Fleisch, was Feld und Garten halt hergeben. Da man sich die freiwilligen Helferinnen und Helfer auch fürs nächste Jahr wieder sichern will, ist Großzügigkeit selbstverständlich.
Doch mittlerweile wird das Erfolgs- zum Auslaufmodell! Heute rattern während der Lesezeit Tag und Nacht die Traubenvollernter durch die Rebberge. Ein Fahrer und sein Gefährt klopfen in einer Stunde mehr Beeren von den Rebstöcken als ein 10-köpfiges Handleseteam in einem ganzen Tag abschneiden würde. Kein Vesper mit selbst gemachter Leberwurst, keine anregenden Gespräche, keine neuen Bekanntschaften mit Menschen aus anderen Sozial- und Bildungsschichten. Ein enormer Kulturverlust, den man wahrhaftig bedauern, jedoch nicht nur dem Kostendruck und Effizienzstreben der Winzer zuschreiben darf.
Wie bei vielem spielt auch hier der Klimawandel eine Rolle.
Durch das wärme Klima werden die Trauben zeitiger reif. Meist schon ab Ende August, wenn es noch sehr heiß ist. Um Qualitätsverluste zu vermeiden, müssen die Trauben dann schnellstmöglich geerntet werden. Während sich früher die Weinlese von Ende September bis Mitte November hinzog, muss heute die ganze Aktion oft innerhalb von zwei Wochen und oftmals in brütender Hitze durchgezogen werden.
Und dann hat sich auch das gesellschaftliche Klima verändert – die Menschen haben immer weniger Zeit. Früher rekrutierten die Winzerfamilien ihre Herbstleute aus der Verwandtschaft, im Freundes- und Bekanntenkreis. Man fragte einfach, wer vielleicht Zeit hätte, am Soundsovielten bei der Weinlese zu helfen. Natürlich konnte nicht jeder spontan zusagen oder am betreffenden Tag freinehmen, aber dann half man eben zu einem späteren Zeitpunkt. Jedenfalls hatte man meist nach ein paar Telefonaten ein zuverlässiges Leseteam zusammen.
Doch irgendwann, Ende der 1990er Jahr, parallel zum Aufkommen der Billigflieger, wurde das immer schwieriger. Zwar ist die prinzipielle Bereitschaft nach wie vor da, die Menschen schwärmen noch immer davon, wie viel Spaß ihnen die Weinlese mache.
Allerdings fehlt den Leuten aufgrund des gestiegenen Freizeitdrucks schlichtweg die Zeit.
„Total gern, aber da sind wir auf den Kanaren.“ „Schade, aber ich flieg’ anderntags zum Wandern nach Madeira und muss packen.“ „Ich war grad zwei Wochen auf Sardinien und kann nicht gleich wieder freinehmen. Herbstet ihr nicht auch mal am Sonntag? Da hätte ich Zeit.“ „Ich flieg nächste Woche für 3 Wochen nach Bali und muss im Geschäft noch viel vorarbeiten.“ Und wer nicht gerade im Urlaub weilt, aus dem Urlaub kommt oder in den Urlaub fliegt, hat meist Rücken, Hüfte oder Knie. Und ausländische Saisonarbeiter sind allenfalls für Großbetriebe interessant, wo jeden Tag gelesen wird.
Für alle anderen bleibt nur der Traubenvollernter, um die Ernte einzubringen. Und für Sorten und Qualitäten, die partout von Hand gelesen werden müssen, wie Selektions- und Rotweine, wird die Lese meist auf Freitag und Samstag gelegt. Da ist es etwas einfacher, ein Helferteam zusammen zu bekommen. Da kann man es dann noch live erleben, das besondere Herbstgefühl, das anarchische Durcheinander der Gesprächsthemen, die absurden Diskussionen, der generationen- und schichtenübergreifende Mix an Personen, das gemeinsame Vesper unter freiem Himmel.
Wenn man bedenkt, wieweit die soziale Segregation in der Arbeitswelt, in Schule und Kultur bereits fortgeschritten ist, ist es höchste Zeit, dass das Herbsten, also die klassische Weinlese von Hand zum immateriellen Weltkulturerbe – zum schützenswerten Kulturgut – erklärt wird.
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